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15.12.1929
von Enya Xiang
Wendepunkt: 1929 – Weltwirtschaftskrise
Rosa Luxemburg
Reichspräsidentin der Deutsche Republik
Palais des Reichspräsidenten
Wilhelmstraße 73
Berlin
15. Dezember 1929
Sehr geehrte Frau Präsidentin Luxemburg,
ich freue mich, dass Sie nicht tot sind. Ich würde Ihnen gern zu ihrem Wahlsieg zu gratulieren. Meine Mutter sagt, dass ihr eine Frau im Amt gefällt, weil Sie das Gute repräsentieren, das aus dem Krieg entstanden ist. Allerdings bin ich zu jung, um zu wählen, dadurch habe ich mich dazu entschieden, direkt an Sie zu schreiben und Sie um Hilfe zu bitten.
Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie Deutschland gerettet haben. Sie sagten immer, dass Kapitalismus die westliche Welt zerstören wird, und erfreulicherweise geschah es in Deutschland nicht, weil niemand hier arbeitslos ist. Meine olivfarbene Schuluniform ist einfach entzückend. Dennoch möchte ich Ihnen fragen, ob wir den Amerikaner helfen können, selbst wenn wir sie im Moment nicht mögen. Meine Schwester heiratet bald einen Amerikaner, und ihr Verlobter ist ein guter Mensch, der mit mir gern tanzt und mir schlaue Fragen stellt, dennoch erlauben Mutti und Papa meine Schwester nicht, ihn zu heiraten. Die herzlosen amerikanischen Kapitalisten haben ihm und seinen Eltern alles weggenommen, und jetzt hat er nichts.
Danach würde ich Sie gern fragen, ob die Soldaten höflicher sein könnten. Es ist aufregend, die roten mit gelben Spartacus Sterne bedeckten Lastwagen jede Woche anzuschauen. Manchmal darf ich in der Schlange warten und ein klotziges Paket annehmen, das der Soldat in der dunkeln Uniform mir gibt. Gestern habe ich meine Arme ausgestreckt, und mein Ärmel ist hochgerutscht und man konnte die silberne Uhr auf meinem Handgelenk sehen. Ein Soldat mit buschigen Augenbrauen fragte, wem ich die Uhr gestohlen habe. Bevor ich fähig war, ihm zu antworten, ist er mit seinen Wurstfingern durch mein Uhrband geglitten und hat mir die Uhr weggenommen. Ich habe nach dem Paket gegriffen, und ich bin geschwind weggelaufen. Mir ist es zu peinlich, meinem Vater zu erzählen, wo seine Uhr ist.
Zuletzt würde ich gern wissen, wie Sie dem Tod entronnen sind. Als ich geboren bin, wehten die roten kommunistischen Flaggen vor den Fenstern an dem Tag, als Sie verschwunden sind. Vor dem Brandenburger Tor wurde danach jährlich an diesem Tag ein riesiges, symbolisches Feuer aus Geldscheinen angezündet. Vor einem Jahr erschien Ihr Gesicht plötzlich wieder auf Plakaten: Sie lebten und kandidierten für die Präsidentschaft!
Manchmal laufe ich den Landwehrkanal entlang, und ich stelle mir Ihre Flucht vor. Laut den Zeitungen wurden sie von dem Freikorps angegriffen, und nachdem ein Soldat auf Sie geschossen hatte, sind Sie im Wasser geschwebt, als ob Sie tot wären, bis Sie bei der Treptower Brücke angekommen waren, wo Freunde Sie gefunden haben. Im Januar friert das eisige Wasser die Seele. Was haben Sie getan, um zu überleben?
Ich freue mich auf Ihre Antwort. Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben und morgen nach Moskau fliegen, um an einer Konferenz teilzunehmen. Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute, und eine angenehme Reise!
Mit sozialistischem Gruß,
Helen, zwölf Jahre alt
01.01.1930
von Samuel Herbert
Wendepunkt: 1929 – Weltwirtschaftskrise
Der folgende Brief wurde von Louis-Ferdinand Ullstein geschrieben, der verantwortlich für die Steuerung des Ullstein Verlags mit seinen vier Brüdern war. Ihre jüdische Herkunft war der Grund ihrer Verfolgung der NSDAP.
Adressaten: Hans Ullstein, Franz Ullstein, Rudolf Ullstein, Hermann Ullstein
Friedrichstraße. 126
10117, Berlin
Von: Louis-Ferdinand Ullstein
1. Januar 1930
Liebe Brüder,
Zuerst wünsche ich euch ein frohes neues Jahr und ich hoffe für uns alle, dass wir 1930 wieder zu mehr Stabilität zurückfinden werden, sowohl für Deutschland als auch unseren gemeinsamen Verlag.
Ich schreibe euch, um die Lage in Deutschland und die nächsten Schritte des Ullstein Verlags zu besprechen, angesichts des sogenannten ‚Wall Street Crashes,‘ der sich vor zwei Monaten an der New Yorker Börse ereignete.
Wie durch ein Wunder haben die Banken in den USA keine Darlehenstilgungen von Deutschland gefordert. Der Grund dafür ist mir schleierhaft, aber es mag daran liegen, dass unsere Wirtschaft zusammengebrochen wäre, wegen ihrer Abhängigkeit von US-Darlehen, wenn die USA eine sofortige Rückzahlung der Darlehen gefordert hätte. Wie Stresemann gesagt hat, „tanzte Deutschland auf einem Vulkan.“ Stresemann glaubte, dass Deutschland die drittstärkste Weltmacht war. Nun, da Großbritannien und die USA unter dem wirtschaftlichen Zusammenbruch leiden, muss Deutschland die Gelegenheit ergreifen, die größte Volkswirtschaft der Welt zu werden.
Weil die Wirtschaft eng verbunden mit der Politik ist, ergeben sich daraus politische Folgen. Die Weimarer Republik hatte nicht genug Arbeitsplätze geboten und Stresemanns Tod hat die deutsche politische Lage weiter aus dem Gleichgewicht gebracht, was die NSDAP geschickt für ihre Zwecke ausgenutzt hat. Ich stelle mir einen Wirtschaftsaufschwung vor — einen Rettungsanker für eine Regierung, die kurz vor dem Aus steht. Wäre Hitler Bundeskanzler geworden, hätte ich befürchtet, dass die Demokratie und Pressefreiheit ihm zum Opfer gefallen wären. So lebt aber meine Hoffnung auf die Demokratie weiter.
Das bring mich zu den Auswirkungen der Ereignisse auf Ullstein. Hitlers fanatischer Antisemitismus und krankhafter Größenwahn hätten zahlreiche Probleme verursachen können, deren Folgen zu groß sind, um sie uns vorzustellen: der Leserverlust, der Verlust der Firmensteuerung und wir wären persönlich von der NSDAP verfolgt worden.
Stattdessen steuern wir womöglich auf eine rosige Zukunft für Deutschland und den Ullstein Verlag zu. Indem Deutschland Großbritannien und die USA zu übertreffen versucht, könnte seine Auslandsmarkterweiterung die Erwerbstätigkeit und das Durchschnittseinkommen erhöhen. Wenn man auf die früheren Umsatzberichte zurückblickt, sind unsere Umsatzerlöse während eines Wirtschaftsaufschwungs immer gestiegen. Unsere Kunden fühlen sich zuversichtlicher und als Folge kaufen sie mehr Bücher unseres Verlags.
Dringend notwendig ist es, dass wir unsere Haltung zu den nächsten Entscheidungen klar festlegen, die Hermann Müller treffen sollte. Der Bundeskanzler könnte mutige Reformen oder weitere vorsichtige Politik auswählen. Es wäre in unserem Interesse, eine aggressive wirtschaftliche Expansion und eine Unterstützung der Demokratie voranzutreiben, um dem politischen System Auftrieb zu geben. Hitler darf nicht die geringste Erfolgsaussicht bei einem weiteren Putschversuch haben.
Bitte antwortet sofort, sodass wir ein Treffen verabreden können.
Es verbleibt mit den besten Grüßen Wünschen für unseren Verlag und unser Land,
Euer Louis
20.07.1949
von Piers Hamilton
Wendepunkt: 1944 – Attentat auf Hitler
Juli 1949,
Swakopmund, Namibia
Liebes Tagebuch,
Morgen werden wir Swakopmund verlassen und in die Hauptstadt Windhoek fahren. Das Reich will uns Juden nach Windhoek umsiedeln, so heißt es zumindest — aber Vater sagt, wir werden in ein Ghetto umgesiedelt. Wir werden gezwungen sein, diese gelben Davidsterne auf unserer Kleidung zu tragen, um uns als Juden zu kennzeichnen. Das ist ein Zeichen der Schande, eine Erinnerung daran, dass wir nicht mehr frei sind. Heinrich Himmler, der neue Führer, will Hitlers Traum von der Rückeroberung aller verlorenen deutschen Kolonien in Afrika verwirklichen. Heute vor fünf Jahren wurde der erste Führer von einem Rebellen namens Claus von Stauffenberg ermordet. Er und seine Verschwörer wollten Frieden mit dem Westen schließen, aber es war alles vergeblich. Sie wurden vor Gericht gestellt und hingerichtet, und Himmler übernahm bald darauf die Führungsrolle. Manche sagen, Deutschland hätte den Krieg verloren, wenn Hitler überlebt hätte — er war viel weniger kompetent. Das neue Regime überfiel erfolgreich Großbritannien und die Sowjetunion, nachdem es die Uranverein-Bombe auf London abgeworfen hatte, und schloss Frieden mit Truman. In Europa wurde nun eine neue Ordnung errichtet. Es gibt Gerüchte, dass Himmler bald in Schweden und Iberien einmarschieren will — Das Dritte Reich scheint unaufhaltsam zu sein. Vielleicht war Hitlers Tod das beste Szenario für das Reich?
Der Krieg ist noch nicht vorbei. Erst vor drei Wochen marschierte Deutschland in Namibia ein. Hier gibt es kaum Widerstand – viele der europäischen Siedler hier sind Nazi-Sympathisanten, und die alten Leute, die hier leben, vermissen die Kolonialzeit. Die SS kam ohne Probleme durch. Wir haben versucht, nach Südafrika zu fliehen, aber die dortige Regierung befindet sich jetzt in einem neuen Bürgerkrieg. Die Buren haben Unterstützung aus dem Reich und kämpfen gegen die englische Regierung. Schon wird unsere Stadt zu einem weiteren Spielball in dieser neuen Weltordnung. Überall in der Stadt wehen Nazi-Fahnen, und die nordischen Jungen aus der Schule werden bereits in die Hitlerjugend eingeschleust. Die Soldaten haben die Kirche eingenommen und ein paar Einheimische inhaftiert. Unter ihnen war auch unser Nachbar Theodor, der sich mit einem der Soldaten geprügelt hat – wir haben ihn seitdem nicht mehr gesehen. Meine Eltern haben große Angst, aber ich weiß, dass sie es verbergen. Wir konnten unsere Straße nicht mehr verlassen, seit sie angekommen sind – ich glaube, sie haben sich gefragt, was sie mit uns machen sollen. Wir sind Deutsche. Unser Familienname ist Rosenbaum – aber das ist nicht deutsch genug. Meine jüngere Schwester versteht nicht, was los ist — sie denkt immer noch, dass wir nur einen Ausflug in die Hauptstadt machen. Ich wünschte, ich könnte sie vor den Schrecken unserer neuen Welt beschützen. Mein Vater meint, ich würde es auch nicht verstehen — ich habe die Geschichten aus Europa gehört. Wir reisen morgen ab und dürfen nur mitnehmen, was wir tragen können.
Ich schreibe dies in der Stille der Nacht. Die heiße Luft ist schwer, und alles, was ich hören kann, ist die ferne Bellen der deutschen Schäferhunde des neuen Regimes.
Bis zum nächsten Mal,
Jonas
18.04.1954
von Gabriel Bosse Chitty
Wendepunkt: 1944 – Attentat auf Hitler
Köln, 18 April 1954
Was für ein Tag: solche gemischten Gefühle, Trauer um meine lieben Eltern und die große Freude, meinen Freund Albert wiederzusehen! Nach so langer Zeit! 10 Jahre sind es schon, seit ich ihn zuletzt gesehen habe! Ich kann mich noch genau an sein Gesicht erinnern, als wir die Nachricht bekommen haben: DER FÜHRER IST TOT!!! Gerade hatten wir die schweren Munitionskisten mit letzter Kraft auf die Lastwagen gewuchtet. Wir waren erschöpft, todmüde von den wochenlangen Schlachten. Und jetzt sollte es schon wieder losgehen: aber dabei war unsere Lage doch total aussichtslos. Der Feind hatte uns so gut wie umzingelt. Dies würde unsere letzte Schlacht sein, dass wussten wir. Wir würden unsere lieben daheim nie wiedersehen. Aber jetzt hieß es Kommando zurück! Eine Bombe hatte das Leben des Führers beendet. Ein Attentat ausgeführt von unseren eigenen Offizieren! Unser Höllenfahrtskommando war abgeblasen, sofortige Friedensverhandlungen waren angesetzt. Albert und ich lagen uns in den Armen. Und danach hatten wir uns irgendwie aus den Augen verloren.
Als ich heute morgen in die Straßenbahn stieg, um zum Dom zu fahren, hatte ich an Albert nicht gedacht. Meine lieben Eltern waren in meinen Gedanken und die Münzen für die Kerzen, die ich zu ihren Andenken anzünden wollte, klingelten in meiner Hosentasche. Ich sah aus dem Fenster, die wieder erbauten Häuser zogen vorbei, aber das konnte meine lieben Eltern nicht zurückbringen. Sie waren den Bomben endgültig zum Opfer gefallen. Wie jedes Jahr an diesem Tag, war mein Herz schwer.
Als ich so den Domplatz überquerte, ich dachte gerade an meine liebe Mutter, da sah ich eine junge Familie: Vater, Mutter und zwei Kinder. Alle waren fein herausgeputzt, denn es war ja Sonntag. Und ich konnte meine Augen nicht trauen, das war doch Albert! Ich lief sofort zu ihm herüber und tatsächlich erkannte er mich auch gleich. Die Verlobte, die er an der Front so vermisst hatte, ist nun seine liebe Frau. Sein Sohn ist 7 und seine Tochter ist 5 Jahre alt. Und wieder lagen wir uns in den Armen. Ich sah über seine Schulter seine Frau und die artigen Kinder, und dachte mir: was für ein Glück, dass das Attentat damals auf Hitler gelungen war. So viele Menschen, denen der Tod erspart blieb und so viele leben die es sonst nie gegeben hätte
20.07.1964
von Zoe Christie
Wendepunkt: 1944 – Attentat auf Hitler
Montag, 20.07.1964
Ich habe heute meinen neuesten Artikel zu Ende geschrieben. Unsere Zeitung ist die erste schweizerische Zeitung, die einen Artikel über den Civil Rights Act in den USA veröffentlicht. Als Jugendlicher träumte ich davon, Journalistin zu werden, und ich habe meinen Traum verwirklicht. Ich kann es gar nicht glauben, was ich alles erreicht habe.
Ich kann das Lachen und Freudengeschrei von Marie und Heinrich hören, wie sie im Garten mit Peter spielen. Mit Opa, Oma und Tante Margot ganz in der Nähe sind sie von Familie, Liebe und Sicherheit umgeben. Marie und Heinrich wissen nichts von unserer Vergangenheit. Basel ist ihre Heimat.
Als unausgesprochene Regel versuchen wir den Krieg nicht vor den Kindern zu erwähnen. Wenn unsere Zeit im Hinterhaus in Amsterdam zur Sprache kommt, sprechen wir mit gedämpfter Stimme. Die Kinder sind zu klein, um die Wahrheit zu erfahren, aber eines Tages müssen sie hören, müssen sie lernen und müssen sie immer erinnern. Die nachfolgenden Generationen dürfen nie vergessen.
Ich habe nicht einmal Peter davon erzählt, aber ich habe neulich angefangen, meine Tagebucheinträge aus den Kriegsjahren zu lesen. Ich blicke auf mein Leben vor 20 Jahren zurück und mein Tagebucheintrag geht um das erfolgreiche Attentat auf Adolf Hitler. Ich kann mir diesen Tag klar in Erinnerung rufen, als ob es gestern gewesen wäre. Jan und Miep liefen die Treppe hinauf, um die Nachricht mit uns zu teilen. Jan trug das Radiogerät und Radio Orange strahlte die Sondermeldung aus. Hitler wurde durch einen Bombenanschlag in seiner Wolfsschanze ermordet. Ich konnte es nicht glauben und stand unter Schock. War es möglich, dass unsere Zeit im Hinterhaus endlich vorbei war? Seit Jahren hatten wir in ständiger Angst vor Entdeckung gelebt und plötzlich erkannten wir, dass unsere Leben nicht mehr in Gefahr waren. Nur mit zeitlichem Abstand denke ich darüber nach, was passiert wäre, wenn Hitler nicht ermordet worden wäre.
Die folgenden Wochen gingen schnell vorbei. Mit Spannung und Hoffnung schmiedeten wir Pläne für unsere Zukunft. Mutti, Vati, Margot und ich trafen die Entscheidung, Holland zu verlassen. Wir waren schon am Ende des Krieges im September 1944 in Basel, als die britischen und sowjetischen Truppen Europa befreiten und das Ausmaß der NS-Verbrechen ans Licht kam.
Ich erkenne jetzt die Wichtigkeit der Erinnerung des Holocausts. Ich weiß, dass die Zeit kommen wird, wenn die Kinder älter sind, dass sie über meine Vergangenheit werden herausfinden müssen. Mein Tagebuch, in das ich gewissenhaft schrieb, als wir uns im Hinterhaus versteckt hielten, liegt seit 20 Jahren einfach in der oberen Schublade meines Schreibtisches. Als Kind wollte ich mein Tagebuch veröffentlichen, aber ich glaube, dass es eine familiäre Aufzeichnung der Vergangenheit ist und deshalb zu persönlich.
Ich habe kürzlich „Nacht” von Elie Wiesel gelesen. Ich frage mich, ob meine Familie die Memoiren unserer Erfahrungen schreiben sollte. Ich muss mit meiner Familie reden. Ich weiß nicht, ob sie mir zustimmen werden, dass es die passende Zeit oder das Richtige ist, aber ich fühle mich verpflichtet, die Erfahrungen unserer Familie zu teilen, sodass die Gräueltaten nie vergessen werden.
Anne
09.01.1972
von Katy Hawkins
Wendepunkt: 1961 – Mauerbau
Kat Baum
Falkensteinstrasse 44
Kreuzberg
10997 Berlin
Hatti Wolf
Feldstrasse 21A
St Pauli
20357 Hamburg
Berlin, 9. Januar 1972
Liebe Hatti,
Letzte Woche wurde meine geliebte Linde gefällt, gleich um die Ecke. Sie hat mich so beruhigt.
Nicht nur der Baum ist weg, sondern auch die Amsel, die jeden Morgen für mich gesungen hat.
Die Regierung macht eine neue Baustelle. Mehr Häuser, mehr Dinge, mehr Plastiksachen. Die Straßen sind voller stressiger Gespräche, Beschilderungen, alles in leuchtenden Farben.
Natürlich freue ich mich über das neue Gesetz, dass sie die so strengen Grenzkontrollen aufgegeben haben, und mehr Ossis in den Westen umgezogen sind… Aber hier wird es immer schwieriger.
Jetzt bin ich eine von fünf Frauen, die in meiner Firma bleibt. Alle anderen wurden entlassen, ohne Angabe von Gründen. Andere Frauen haben gekündigt, weil sie den Druck verspüren, zu Hause zu bleiben und sich um ihre Kinder zu kümmern. Verrücktheit!
Die verbliebenen (nur zwei!) Mütter lachen darüber und nennen sich stolz Rabenmütter, aber das Lachen verblasst. Wir alle wissen, dass unsere Arbeitstage gezählt sind.
Ich höre Geschichten von meiner Ossi-Nachbarin, die Wissenschaftlerin ist, darüber, wie sie gleich bezahlt wurden wie ihre männlichen Kollegen! Jede Mutter, die nicht arbeitet, wird ein Schmarotzer genannt! Raben, Schmarotzer, Ideologie!
Rat mal, was ich sonst noch aus meinem Fenster hören kann? Gestern zum ersten Mal:
„Unser Zuhause ist das Gras auf der Wiese,
das Getreide des Feldes und die Vögel der Lüfte”
Die Lieder der Pioniere!
Das Ergebnis des neuen Ost-West-Vertrages: KLUGE-LÖSUNG. Ach! Die Pioniere werden unseren Müll einsammeln. Lieber Himmel!
Sag es niemandem, aber wenn ich besonders müde bin, finde ich irgendwie, dass sie ziemlich süß klingen: singen über Grünflächen und Vögel und so weiter.
Aus der Ferne wirken sie wie eine geschmeidige Schlange verziert mit blauen Seidenschals. Aber sieh sie dir aus der Nähe an, sie stehen kerzengerade. Steif und solide, aber immer mit einem engelsgleichen Lächeln.
Inzwischen träume ich von Wolken aus schwarzen Federn…Ich und die Rabenmütter fliegen gen Osten, um bessere Jobs zu bekommen, komplett mit glänzenden Schreibtischen und respektvollen Chefs. Darunter eine seiden-blaue Schlange, die durch das Land gleitet. Ich bin wirklich darüber verwirrt.
Liebe Hatti, was schreibe ich hier für einen Unsinn, es tut mir leid, hauptsächlich möchte ich etwas mit dir teilen:
Ich habe viele Gerüchte über die Dazwischen Leute gehört. Hast du? Weder Ossi noch Wessi, sie haben eine neue Gemeinschaft entwickelt: gegen die Zweiteilung.
Es hat sich aus dem gescheiterten Weiche-Grenze-Experiment entwickelt, erinnerst du dich daran? Als die Regierung an der Ost-West-Grenze bei Lübeck eine große Hecke gepflanzt hat. Seitdem ist ein Wald auf beiden Seiten gewachsen. Ohne Kontrollen seit 1965. Jetzt gibt es eine Gemeinschaft, die jeden Tag stärker wird. Mehr und mehr Leute sind beigetreten.
Sie sprechen davon, einen „dritten Raum“ zu schaffen. Eine Linie, die zu einem Raum wird…
Eine junge Gesellschaft aber hoffnungsvoll.
Ich brauche Raum für Ideen und echte Freiheit, ohne unterdrückende Ideologien…
Ach, Hatti. Du kennst mich, Ich werde wahrscheinlich erstmal hierbleiben, und stelle mir all diese Optionen vor. Zu viele Möglichkeiten und gleichzeitig gar keine: wie die Supermärkte.
Mit lieben Grüßen, wie immer, deine Freundin,
Kat Baum
27.11.1989
von Reya Hossain
Wendepunkt: 1989 – Friedliche Revolution
27/11/1989
Lieber Armin,
Es tut mir leid, dass ich diesen Brief so spät verschickt habe… die letzten Wochen waren sehr stressig. Mein Bruder erholt sich immer noch von den Verletzungen und mein Vater hat seinen Job verloren. Wir versuchen, unsere Ersparnisse zu nutzen, um die Rechnungen zu bezahlen und Essen zu kaufen. Unser lokales Lebensmittelgeschäft hat geschlossen, sie sagen, der Besitzer ist in den Westen durch Ungarn geflohen, erinnerst du dich an das Picknick?
Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühle, ich bin todunglücklich. Der Tag, an dem Schabowski angekündigt hatte, dass die Grenzen offen waren, war ein Traum. Natürlich war es zu gut, um wahr zu sein. Wir haben sofort alles gepackt und sind so schnell wie möglich zum Tor gefahren. Ich begann mir vorzustellen, wie mein Leben im Westen aussehen würde.
Mein Bruder hat ein Rock’n’Roll-Lied gesummt, das wir heimlich im Radio gehört haben. Vater hat gehofft, er könnte endlich einen guten Job haben und Mutter freute sich auf ihre Geschwister. An den Toren waren so viele Menschen, dass es schwer war, sich zu bewegen. Die Zeit ist vergangen, aber sie öffneten das Tor nicht. Die Leute haben geschrien, dass Schabowski gesagt hat, wir könnten gehen, aber nichts hat funktioniert.
Wir hatten stundenlang gewartet, die Situation wurde nicht besser. Viele junge Leute wurden lauter, auch mein Bruder. Dann haben einige Leute gesagt, dass es nicht genug Wachen gab, so dass sie bald aufgeben würden. Mehr Menschen begannen zu protestieren, viele haben geschrien, dass ihre Familien im Westen warteten. Die Wachen sahen überwältigt aus.
Dann hat Offizier Jäger gesagt, er würde das Tor öffnen, aber er würde ein wenig warten. So haben wir gewartet. Aber nach 40 Minuten sind Militärautos gekommen. Mehr Wachen sind gekommen, um denen zu helfen, die gegen uns kämpften… es war eine Lüge. Es tut weh, sich daran zu erinnern. Sie haben gesagt, dass es einen Fehler in der Ankündigung gab. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Die Leute wurden heftig und dann haben auch die Wachen angegriffen. Sie haben nicht geschossen, aber viele Menschen wurden verletzt, ebenso mein Bruder. Andere wurden festgenommen. Aber mitten in dieser Hölle hatte mein Vater mich und den blutigen Körper von meinem Bruder genommen, während meine Mutter weinte. Als Vater weggefahren ist, habe ich auf diese unberührte Mauer zurückgeschaut. In einem Augenblick sind alle meine Träume verschwunden.
Vater sagt, er hat Hoffnung für die Zukunft, dass diese Regierung bald zusammenbrechen wird, wie es im Ausland passiert und die UdSSR schwächer wird. Ich bin vielleicht nicht so hoffnungsvoll, aber ich weiß, dass wir uns zusammenreißen müssen… bis die Mauer fällt. Dann werden wir uns wieder treffen.
Ich hoffe, du bekommst meinen Brief. Bitte schreib mir zurück.
Liebe Grüße,
Hilda
04.02.1992
von Charlotte Atkinson
Wendepunkt: 1989 – Friedliche Revolution
Dienstag, der 4. Februar 1992
Liebes Tagebuch
Niemand weiß mehr, wer jemand ist. Ich schaue zu meiner Mutti und dann zu meinem Vati, doch ich sehe nur geisterhafte Gestalten, die nicht hierhergehören. Keiner gehört hierher. Nicht in dieses starre Regime, in dem niemand atmen kann, weil wir Angst haben, gehört zu werden. Sie sagten, es würde besser werden, sie sagten, wir würden frei sein, aber während des Restes der Welt sich weiterbewegt (oder so habe ich es durch Funkstörungen gehört), sitzen wir fest und können nicht entkommen.
Ich bin eine hoffnungslose Romantikerin, der davon träumt, was es jenseits der Grenzen geben muss. Es muss doch ein besseres Leben geben, oder? Es muss Freiheit geben? Es muss etwas anderes geben als die DDR. Oh, wie sehr ich mich danach sehne, die Welt zu erkunden und etwas Neues kennen zu lernen. Aber nein. Ich weiß nichts, was mir nicht von der Regierung eingebläut wurde. Sie sagen, es ist Gleichheit, aber wie kann das gleich und gerecht sein, wenn wir keine Freiheit haben?
Ich erinnere mich, dass die Menschen vor ein paar Jahren begannen, ihre Gefühle zu zeigen. Ich erinnere mich an diejenigen, die anfingen, sich über das Regime zu äußern. Ich erinnere mich, dass ich sie nie wieder gesehen habe. Ich dachte, es sollte friedlich sein. Ich dachte, wir wären hier alle für die Gemeinschaft. Offenbar nicht.
Ich wünschte, diese Proteste wären erfolgreich gewesen, dann hätten wir jetzt vielleicht Freiheit. Vielleicht wüssten wir dann, wie das Leben außerhalb dieser Stadt ist. Möglicherweise, aber wahrscheinlich nicht. Heute ist ein besonderer Tag. Es ist mein 21. Geburtstag. Aber ich wünschte, es wäre nicht so. Ich hasse meinen Geburtstag. Denn jedes Jahr rückte der Zeitpunkt näher, an dem ich Kinder bekommen sollte. Und jetzt ist er da. Bald werden meine Eltern erwarten, dass ich schwanger werde. Ich meine, sie wollen schließlich keine altersschwache Tochter ohne Kinder haben. Gott bewahre, dass ich nie Kinder bekomme! Sie sagen zu mir: “Sieh deine Felle davonschwimmen!”, aber die Sache ist die, dass meine Hoffnungen und Träumen an dem Tag verschwunden sind, an dem ich geboren wurde. An dem Tag, an dem ich gezwungen wurde, für immer an diesem Ort zu bleiben, ohne die Wahl zu haben, ihn zu verlassen. Meine Hoffnungen und Träume bestehen nicht darin, Kinder zu bekommen. Ich möchte reisen. Ich möchte eine gute Karriere haben, die ich selbst wählen kann. Ich möchte frei sein.
Aber ich bin nicht frei. Und so wie es aussieht, werde ich auch nie frei sein.
05.08.1992
von Eleni Pavlopoulos
Wendepunkt: 1989 – Friedliche Revolution
Das Tagebuch der Kathrin Reiner: 5. August 1992
Ein echter Alptraum. Ich sitze in Elend. Gerade am Tag, an dem ich in Barcelona auftreten sollte. Aus dem Fenster: der langweilige Brocken. Morgen feiere ich meinen 16. Geburtstag. Von wegen!
Herr Schmidtke meinte, es gibt Konsequenzen. Er ist nicht mit mir zurückgeflogen, obwohl er auf dem gleichen Flug sein sollte. Ich will ihm so viele Fragen stellen aber Vati sagt, dass ich mit meinem Trainer nicht mehr sprechen darf, auch wenn er zurückkäme. Was denkt Vati sich? Meiner Meinung nach würde der Schmidtke nie auf die Idee kommen. Seit 3 Jahren meckert er über die Montagsdemonstrationen. Es war aber schön, am Republiktag mit ihm und der ganzen Mannschaft zusammen zu marschieren.
Nicht zu fassen. Bin den Pionieren und der FDJ immer treu geblieben. Habe nie was gegen die Partei gesagt. Stundenlang, wochenlang, seit 6 Jahren trainiere ich nur. Pferdesprung. Stufenbarren. Gebe immer mein Bestes. Auch nachdem ich mich plötzlich alleine im Internat des SC Dynamo in Berlin befand und weinte – der Herr Präsident Ewald hat mich getröstet, und ich habe weiter geturnt.
Ich komme nicht darüber hinweg. Ausgezeichnet in den Spartakiaden, im Turn- und Sportfest der DDR. Silber bei der Junioren-Europameisterschaft. Mein Traum: beim Bodenturnen in den Olympischen Sommerspielen eine 10, Gold und den vaterländischen Verdienstorden zu bekommen. Mit der Olympia Qualifikation saß ich zum ersten Mal im Flugzeug. Zum ersten Mal im Westen. So stolz darauf, den Arbeiter- und Bauernstaat unter Athleten aus aller Welt zu vertreten. Ich verstehe nicht, warum man sagt, dass unsere Republik isoliert ist. Opa meint, dass der Jelzin sich für uns nicht interessiert, dass wir bald Reisefreiheit bekommen werden, weil der Honecker ständig mit dem Kohl spricht. Ich finde es gemein, Frau Honecker die lila Hexe zu nennen, weil sie sich die Haare färbt. Sie sieht doch flott aus.
Wieso gerade ich? Das einzige Kind aus unserer Turnmannschaft. Jeder 6. Olympionike wurde zum Krankenhaus del Mar gebracht. Dort wartete ich mit Lavinia aus Rumänien – sie konnte ein bisschen Deutsch und war urst nett. Die Ärztin auch. Den Gerüchten, dass manche unserer Leistungssportlerinnen absichtlich schwanger werden, habe ich nie geglaubt. So ein Quatsch.
Anabolikum. Was soll das, denn? Jeder Trainer hat uns erklärt, wie wichtig Vitaminen seien. Deshalb habe ich immer eine Apfelsine zu Hause gekriegt. Natürlich gab es stets ein Saftkübel in der Turnhalle. In jeder Pause haben wir davon getrunken. Seit Ostern wurden uns auch blaue Vitamin C Pillen verabreicht, um uns vor den Olympiaden zu verstärken. Man achtet auf die Nahrung, wie es sich gehört.
Kerstin empfängt Westfernsehen und sagt, dass eine Ermittlung aller unserer Sportler und Trainer demnächst eingeleitet wird. Vielleicht meinte Vati das, als er vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, gesprochen hat. Keine Ahnung, warum Kerstin mich gefragt hat, ob ich mich schäme. Ich habe nichts getan. Die einzige Sperre, die ich verstehe, ist die Rappbodetale.
Von Wimpeln und Medaillen umzingelt.
6 Monate auf dem Kanapee.
Gesperrt.
In Elend beim Brocken.
Keine Lust mehr aufs Turnen.
09.11.1995
von Alexander Wride
Wendepunkt: 1989 – Friedliche Revolution
Ost-Berlin, den 9. November 1995
Liebe Angela, Heute am sechsten Jahrestag der Berliner Mauerbesetzung wohnen wir beide immer noch am selben Platz, wie damals 1989; Du in West-Berlin, ich in Ost-Berlin. Es ist immer noch unfassbar, dass die Russen am 9. November 1989 nicht mit ihren Panzern auffuhren und den Aufstand brutal unterdrückten, wie sie es damals im Juni 1953 taten.
Nein, die Mauerdemonstranten kletterten freiwillig von der Mauer herunter, nachdem Gorbachev der DDR-Regierung versprochen hatte, schließlich unsere Freiheitsrechte und Regierung zu verbessern. Auch würde unsere Wirtschaft finanziell großzügiger unterstützt. Danach wurden die neuen Gas- und Ölleitungen von Russland durch unsere DDR in den Westen gelegt. Mit den hohen Transitgebühren blühte unser Land auf und wurde mit dem Westen konkurrenzfähig. Da brauchten wir die Mauer nicht mehr, sie wurde schnell abgebaut, da niemand mehr in den Westen fliehen wollte.
Uns geht es jetzt sehr gut. Die Löhne sind ums Dreifache gestiegen, die Läden sind voller westlichen and östlichen Angeboten, und mit Hilfe der russischen Ingenieure hat sich unsere Technik sehr verbessert. Der Trabi ist zu einem Museumsstück geworden, und unserer Gorbi wird selbst in den USA und Japan gefeiert.
„Ja, aber die Stasi bespitzelt sie Euch immer noch so viel?“ wirst Du fragen? Sie tyrannisiert uns nicht mehr; sie ist viel zu beschäftigt mit ihrer neuen Aufgabe, Informationen über all die anderen Länder einzusammeln, anscheinend hat sie sich besonders auf China, USA und Groß Britannien konzentriert. Die Stasi hat keine Zeit mehr uns kleine Menschen zu bespitzeln und uns zu quälen.
Wir genießen die neue Freiheit und das Wirtschaftswunder, das die Umwälzung brachte. Wir sind jetzt so glücklich wie damals als Du bei uns warst und wir sorgenlos als kleine Kinder in unserem Garten spielten.
Die Vernunft hat gesiegt, und die meisten sind jetzt sehr zufrieden. Hinzu kommt bei uns, ein enger Gemeinschaftssinn, wir helfen uns gegenseitig, ein Gemeinschaftssinn, den es so nicht mehr im Westen gibt.
So ist in den Augen der Westdeutschen die DDR ein begehrliches Einwanderungsland geworden. Die Arbeitsbedingungen sind hier viel besser als bei Euch: Hohe Löhne, gesicherte Arbeitsstellen, gute Altersversicherungen, lange Ferien und noch viel mehr. Wir selbst sind der Meinung, dass die Westler ruhig zu uns kommen können; sie können unsere Wirtschaft verbessern und unterstützen. Die verängstigte BRD-Regierung denkt in letzte Zeit jedoch daran wieder eine Mauer zu bauen, um den intellektuellen Aderlass zu reduzieren. So benehmen sie sich genau so wie damals die ehemalige DDR.
Jetzt kann ich aus meinem Fenster sehen, wie da auf der westlichen Seite von Berlin eine immer höhere Mauer aufgebaut wird. Da fragt man sich, wer wird da eingesperrt wir; oder eigentlich die Westler?
Schade, dass deine langfristige Idee von einer Westlichen Utopie so misslungen ist. Leider bist Du nach dem ersten Mauerausbau schnell in den Westen gezogen und du bist jetzt wegen der Mauer von den Osten ausgesperrt. Die Welt wird immer verrückter! Da müssen wir halt wieder viel telefonieren.
Ganz liebe Grüße.
Deine Claudia
13.08.1996
von Louis aan de Wiel
Wendepunkt: 1989 – Friedliche Revolution
Berlin, den 13. August 1996
Liebe Katrin,
Rate mal, was ich heute gefunden habe! Die Trikots, mit denen ich und Lenny früher in den 1980er Jahren gespielt haben. Das waren gute Zeiten. Bevor all diese verrückten Sachen passiert sind. Jeder hat gesagt, dass wir beide für immer Freunde bleiben würden, aber das Gegenteil ist passiert. Ich meine, ich bin jetzt ein Buchhalter im Westen, während er etwas ganz anderes ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir schon einmal von ihm erzählt habe, oder? Nun, du wirst es vielleicht nicht glauben, aber es ist die Wahrheit.
Ich hatte also einen Freund der Lenny hieß. Er war sehr groß und hatte kalte-blaue Augen. Er war auch ein Fußballfanatiker. Er hatte immer einen Ball dabei und spielte Fußball, immer direkt an der Mauer, weil er ein kleines Tor da gebaut hatte. Eines Tages gingen ich, Lenny, Tom und Kevin dahin, um Fußball zu spielen, wie wir es jeden Sonntag nach der Schule getan haben. Es war sehr windig aber die Sonne schien, also haben wir uns nicht beklagt. Auf einmal spielte Tom einen sehr schlechten Ball zu Lenny, der Ball ging an ihm vorbei, prallte gegen einen Stein, dann über die Mauer und auf die die andere Seite. Alle waren sich sicher, dass der Ball verloren war, aber Lenny dachte er könnte ihn noch finden. Also holte er eine Leiter, wartete, bis die Grenzwachen ihre Patrouille machten – er kannte die Routine genau, da wir immer an der Mauer spielten – und kletterte auf die Mauer. Wir hörten ein kleines Geräusch, als er auf der anderen Seite landete, aber dann nichts weiter.
Nach ungefähr zwei Stunden mussten wir gehen mit Tränen in den Augen, weil wir dachten, dass er tot war. Jahre später haben wir herausgefunden, dass Lenny auf der anderen Seite zum Stasi-Chef geworden war. Als er im Gefängnis steckte, weil er über die Mauer geklettert war, war der Polizeichef von seiner Kaltblütigkeit und Fitness beeindruckt und empfahl ihn der Staatssicherheit. Dort machte er Karriere. Lenny hat dann am 4. November 1989 einen riesigen Protest in Berlin niedergeschlagen. Als Belohnung hat die Regierung ihn zum Stasi-Chef gewählt. Er wurde als “Der Stählerne” bekannt. Jetzt bringt er jeden ins Gefängnis, der gegen die Stasi und die DDR ist. Er ist zum Tyrannen geworden. Ich habe vor ein paar Wochen gehört, dass er immer noch den Ball, den er auf der anderen Seite gefunden hat, in seinem Büro behält, als Erinnerung an seine Jugend. Ich frage mich manchmal, was passiert wäre, wenn Tom nicht so schlecht geschossen hätte…
Nun, das ist die Geschichte. Tut mir leid, wenn ich dich langweile, aber dank Lenny ist auf der DDR-Fahne jetzt der Fußball das Hauptmotiv. Ich höre Geschichten über Anwohner, die gezwungen werden, immer einen Fußball in der Tasche zu haben und in den Arbeitspausen zu spielen. „Der Stählerne“ will damit die Effizienz bei der Arbeit verbessern und gleichzeitig die Fußballwelt im Westen übertreffen. Verrückt, oder? Deshalb gewinnt die DDR-Mannschaft so viele Spiele bei internationalen Meisterschaften. Aber sie verliert Spieler, die den Ball beim Training im Ausland absichtlich vom Platz schießen und dann selbst verschwinden. Wie auch immer, wir sehen uns in einer Woche.
Bis dann,
Dein Louis
31.12.1999
von Joanna Wang
Wendepunkt: 1944 – Attentat auf Hitler
31. Dezember 1999
Freitag
23:30 Uhr
Liebe Konstanze,
wenn du morgen diesen letzten Tagebucheintrag von mir siehst, bitte ich dich, die Veröffentlichung zu veranlassen, nachdem du ihn selbst gelesen hast. Wie du weißt, waren die letzten Jahre nicht leicht für mich, und ich bin froh, dass ich bald wieder mit deiner Mutter vereint sein werde. Wein nicht, Konstanze, und nimm meine Entschuldigung an.
Die Welt kennt mich als Claus von Stauffenberg, den deutschen Oberst, dem am 20. Juli 1944 das Attentat auf Adolf Hitler gelang. Die einen bejubeln mich heute als Helden, die anderen verurteilen mich als Verräter. Die einen halten mich für einen konservativen Patrioten, die anderen für einen radikalen Nazi. Ich bin nichts von alledem. Im Nachhinein würde ich mich gerne als idealistischen Narren betrachten, der impulsiv versucht hat, den Kurs der Menschheit zu steuern, ohne die Ursache des Krieges zu verstehen. Ich wollte mit dem Attentat eine moralische Geste setzen, eine Trennung Deutschlands vom Hitler-Regime. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass meine Tat viele Menschen, die nicht der Nazipartei angehörten, erzürnen würde. Hitler war in den Augen vieler die einzige Person, die uns sicher durch die kritische Situation führen konnte.
Nachdem das Attentat erfolgreich durchgeführt worden war, wurden die unterschiedlichen Motivationen innerhalb unserer Gruppe zum Problem. Werner und ich wollten, dass alle militärischen Aggressionen sofort gestoppt werden, aber einige andere wollten in erster Linie die Aristokraten wieder an die Macht bringen. Wir überwarfen uns; unser geplanter Staatsstreich, der sich aufgrund von Streitigkeiten verzögerte, war zum Scheitern verurteilt. Während meiner Flucht, erfuhr ich, dass die Partei bald einen neuen Führer wählte, der zusammen mit einigen anderen Offizieren das, was ihnen an Scharfsinn fehlte, mit Gewalt wettmachte.
Ich konnte den Krieg nicht aufhalten. Ich habe seinen Erzeuger nicht zerstört. Hitler mag den Krieg begonnen haben, aber er war nicht der einzige Grund, der eigentliche Grund, dass er stattfand. Es ist das Streben nach Dominanz, die Gier nach Profit, die Korruption der Macht, die Ausrottung eines vermeintlich minderwertigen »Anderen«, die den Krieg hervorbringt. Wenn man den Anstifter oder das Motiv für den Krieg suchen würde, würde man sie in jeder Regierung finden, wo die Aussicht auf Krieg Vorteile bringen könnte. Manchmal, liebe Konstanze, frage ich mich, ob die Menschheit dazu verdammt ist, sich in einem permanenten Kriegszustand zu befinden, und Zeiten des Friedens nur ein Produkt unserer Fantasie sind; obwohl es Möglichkeiten gibt, einen Menschen zu töten, gibt es keine, die Gier zu zerstören.
Aber, Konstanze, die Menschheit wird nicht durch das Ergebnis, sondern durch den Versuch geadelt; und durch das Hoffen, unbeirrt und beharrlich. Das ist es also, worum ich dich bitte: die Hoffnung nie zu verlieren, auch nicht in den verzweifeltsten Zeiten des Krieges, und es weiter zu versuchen, auch wenn der Feind unser menschlicher Instinkt ist. Verzweifle nicht und glaub nicht, dass der Krieg, weil er in unserer Geschichte fortbesteht, auch in der Zukunft fortbestehen muss; so schwierig es auch ist, sich eine Welt des Friedens und der Harmonie vorzustellen, ich versichere dir, dass es sie gibt.
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